19. Februar 2024

Nachruf auf Bernhard Purin (06. Oktober 1963 - Februar 2024)

von Barbara Staudinger
© Daniel Schvarcz

Es gibt keine Anleitung, wie man einen Nachruf für einen Freund schreibt. Und es gibt keine Worte, die die Fassungslosigkeit, dass der Freund tot ist, umfassend beschreiben können. Es gibt nur Annäherungen, Versuche. Und dies ist einer.

Ich traf Bernhard nicht in seiner Wiener Zeit. Der Vorarlberger, der nach seinem Studium in Tübingen und seiner kurzen Zeit im Jüdischen Museum Hohenems in der Hauptstadt „pickengeblieben“ war. Ich traf Bernhard nicht, als er in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre am Jüdischen Museum Wien Kurator war, denn um diese Zeit begann erst mein Studium.

Ich lernte ihn erst Anfang der 2000er-Jahre kennen, als er bereits in Deutschland war und ein Museum leitete. Damals war ich junge Wissenschaftlerin, die sich für jüdische Geschichte interessierte. Ich traf ihn im Jüdischen Museum Franken im bayerischen Fürth, wo die damals heiß diskutierte Schau „Feinkost Adam“ gezeigt wurde. Ich weiß noch, wie ich in der Ausstellung bei einer Hörstation saß, laut lachen musste, und plötzlich ein „Wer lacht hier?“ hörte. Und schon kam Bernhard aus seinem Büro, dessen Tür immer offen war, und wollte sehen, wer sich hier amüsierte. Das war unsere erste Begegnung, unser erstes Gespräch, auf das noch viele weitere folgen sollten. Die Wellen des Zufalls wollten es, dass wir in den folgenden Monaten öfters zusammengespült wurden: Bei einer Diskussion um ein Migrationsmuseum, in einem Café nach einer Veranstaltung ... Und langsam wurden aus diesen Gesprächen, die sich zuerst über jüdische Geschichte im Allgemeinen und in Süddeutschland in der Frühen Neuzeit im Besonderen gedreht hatten, lange Diskussionen über Wissenschaft, Ausstellungen und Museen.

Es waren Gespräche, die schnell zwischen verschiedenen Themen sprangen, Gespräche, nach denen ich Vieles recherchierte, von dem ich nicht zugeben wollte, es nicht gewusst zu haben, und es waren Gespräche, die sich immer wieder auch mit meiner Zukunft beschäftigten. Irgendwann sahen wir uns gemeinsam eine Ausstellung an, welche, habe ich vergessen. Was ich nicht vergessen habe, ist, dass wir nachher stundenlang darüber redeten: Über das Narrativ, über die Objekte, über die Gestaltung, über die Texte.
 
Ein paar Tage später, es war 2003, trafen wir uns im Café Ritter in Mariahilf. Es war warm, vielleicht war es Sommer, wir saßen jedenfalls draußen im Schanigarten. Und ich weiß noch ganz genau – und er erinnerte mich die nächsten 20 Jahre regelmäßig daran – wie ich zu Bernhard sagte, dass ich in einem jüdischen Museum arbeiten wollte. Er, der Museumsmaniac, verstand mich. Er wollte mir helfen, versprechen konnte er mir jedoch nichts.

Ein Jahr später war ich auf einer Tagung in Jerusalem. Ich saß am Mount Scopus unter einem Sonnensegel, es war Sommer und die Pause vor der nächsten Sektion war fast zu Ende. Mein Handy klingelte, es war eine deutsche Festnetznummer. Ich hob ab. Es war Bernhard, der inzwischen Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in München geworden war. „Willst du noch immer im Jüdischen Museum arbeiten?“, fragte er, „Dann bewirb dich in München.“

2005 übersiedelte ich nach Bayern und Bernhard wurde mein Chef. Seine Bürotür war immer noch offen, aber er war fast nie in seinem Büro, sondern saß bei uns Kuratorinnen, Jutta und mir, im Büro auf einem Stuhl, den er dort an die Wand gestellt hatte. Auf diesem Stuhl besprach er alles: Die österreichische Innenpolitik, Judaica und süddeutsche Silberschmiede, das Museumsprogramm… und seine Sehnsucht nach Wien. Schon damals sagte er hie und da – und das wurde in den nächsten fast 20 Jahren immer häufiger – dass er nach seiner Pensionierung nach Wien zurückkommen würde. Nach dem Tod seines Vaters hatte er sich dort eine Wohnung gekauft, die neben seinem Haus im niederösterreichischen Rosenburg auf ihn wartete. Doch zurück in die 2000er-Jahre.
 
Wir bauten gemeinsam das Museum, im wahrsten Sinne des Wortes. Es war eine verrückte, arbeitsintensive Zeit, in der ich mehr gelernt habe, als jemals. Mein Lehrer war Bernhard. Er war von seiner Arbeit besessen und das zog mich in seinen Bann. Wenn wir nicht über die Arbeit redeten, zeigte mir Bernhard Cafés, in denen österreichische Zeitungen auflagen, Bars, in denen sich Auslandsösterreicher:innen trafen. Bei unseren Sitzungen kamen die deutschen Kolleg:innen meistens zu spät – sie hätten gedacht, wir Ösis würden alles ein bisschen gemütlicher angehen, aber das taten wir nicht. Wenn sie auftauchten, waren wir bereits bei Punkt drei der Tagesordnung.

Meinen Mann, der in Wien geblieben war, sah ich nur am Wochenende. Trotzdem wurde ich schwanger. Ich weiß noch, wie ich Bernhard die Nachricht überbrachte. Er hatte weder eigene Kinder noch irgendeinen Bezug dazu. Er überraschte mich. Er, der keine Ahnung hatte, meinte nur: „Das schaffen wir schon“, und so war es dann auch.
 
Im 9. Monat ging ich zurück nach Wien, drei Monate nach der Geburt meines Sohns eröffneten wir im März 2007 das Jüdische Museum München – mit einem Baby im Kinderwagen. Obwohl ich dann in Wien blieb, riss der Kontakt nie ab. Bernhard war ein treuer Freund und wenn er in Wien war, war ich auch immer einer der Menschen, die er auf seinen Besuchen traf. Und er blieb auch mein Lehrer, mein Mentor.
 
2018 klingelte wieder mein Telefon – und wieder war es Bernhard, der mich fragte, ob ich mich nicht für die Museumsleitung in Augsburg bewerben wolle. Er wäre dafür, sagte er, und Augsburg wäre ja auch gleich neben München. Im September begann ich meine neue Stelle – begleitet von stundenlangen Telefonaten mit Bernhard, Treffen in den jeweiligen Museen, Fachsimpeln und gemeinsamem Nachdenken. Den letzten Abend vor den Lockdowns verbrachten wir schon fast traditionell in seinem Münchner Lieblingswirtshaus bei Braten und Bier, letzteres war auch eine große Liebe von Bernhard.
 
Der Bier-Ausstellung im Jüdischen Museum München und Bernhards Unfähigkeit, von einem Thema, mit dem er sich gerade beschäftigte, nicht extensiv und permanent zu erzählen, verdanke ich mein nicht ganz freiwillig angeeignetes Wissen über Craftbierproduktion. Bei allen anderen Themen war es auch so. Wusste er über etwas, was mich beschäftigte, einmal nicht Bescheid, wusste er spätestens beim nächsten Treffen mehr als ich, er hatte recherchiert und alles gelesen, was er finden konnte. Darüber machten sich manche lustig, aber dafür lebte er. Denn er war viel allein – und besonders die Lockdowns taten ihm nicht gut. Ich bemerkte, dass sich seine Telefonate häuften und er ständig zoomen wollte, um über dieses und jenes zu reden.

Als ich ihm sagte, dass ich mich für die Stelle am Jüdischen Museum in Wien bewerben würde, wurde dies sofort zu seiner Agenda. Ich weiß nicht, wie oft er mich anrief, um mir dieses oder jenes zu raten, aber es war oft. Und wie sehr er sich mit mir freute, als ich schließlich die Stelle bekam, weiß ich auch. Er, der oft zurückgezogen und in Bezug auf Gefühle hilflos war, konnte sich auf eine fast kindliche, rührend ehrliche Weise mitfreuen, wie kaum ein anderer.

Alle, wirklich alle Medienmeldungen ließ er mir zusammenstellen und schickte sie mir aus München. Ich glaube, er war stolz auf mich. Ich glaube, dass es mir wichtig war, ihn stolz zu machen. Meinen Lehrer, meinen Mentor, meinen Freund.

Es gibt keine Anleitung, wie man einen Nachruf für einen Freund schreibt. Man kann es nur versuchen.